Forschungsidee
Vor dem Hintergrund unterschiedlicher Forschungstraditionen und -perspektiven interessiert sich das Kolleg für die empirisch zu beobachtende Spannung zwischen der für den Vollzug unterrichtlicher Praxis notwendigen Interaktionsordnung und fachlich anspruchsvollen Aufgaben, die eine etablierte Ordnung potentiell herausfordern. Obgleich die Interaktionsordnung des Unterrichts an dem organisationalen Zweck ausgerichtet ist, (fachliches) Lernen zu ermöglichen, scheint sie auch unabhängig und sogar potentiell in Spannung hierzu zu operieren. Während man bei einem hohen Anteil alltäglichen Unterrichts bezüglich seiner fachdidaktischen Qualität zu einer eher skeptischen Einschätzung kommen kann, muss man doch zur Kenntnis nehmen, dass dieser Unterricht trotzdem – oder sogar deswegen – relativ reibungslos verläuft.
Das Graduiertenkolleg fokussiert dementsprechend das Verhältnis zwischen dem interaktiven Vollzug von Unterricht und der fachlichen Qualität des Unterrichts. Der Grundschulunterricht ist hier ein besonders interessantes und relevantes Feld, weil gefragt werden kann, wie sich die Orientierung auf die Aufrechterhaltung der Unterrichtsordnung entwickelt und was das für die Gestaltung von fachlichen Lernprozessen bedeutet. Mit der Einsozialisation in die Schüler:innenrolle und der Etablierung der Interaktionsordnung des Unterrichts werden die Grundlagen für eine auf Fachlichkeit bezogene Kommunikation erst hergestellt. Das Graduiertenkolleg fragt nach den empirischen Bedingungen von Vermittlungshandeln und Aneignungspraktiken und untersucht dabei die Leistungen und Grenzen der sozialen Form ‚Unterricht‘: Wie wird die soziale Form ‚Unterricht’ durch Themen oder Situationen mit unterschiedlichem inhaltlichem Anspruch herausgefordert und wie geht der Unterrichtsvollzug mit dieser Herausforderung um? Ein weiterreichendes Ziel des Graduiertenkollegs besteht demzufolge in der Theorieentwicklung zum Zusammenhang von Wissen, Vermittlung und Interaktion im Kontext des (Grundschul-) Unterrichts.
Das grundlegende gemeinsame Verständnis vom Forschungsgegenstand des Graduiertenkollegs lässt sich als praxeologische Reformulierung des didaktischen Problems kennzeichnen. Es geht darum, die Beobachtung und Analyse schulischen Lernens konsequent auf den Kontext der Unterrichtssituation und -interaktion zu beziehen und von dort aus nach Bedingungen und Effekten für fachliches Lernen zu fragen. Das Graduiertenkolleg kann dabei an einige neuere und z. T. konvergierende Entwicklungen anknüpfen:
- an eine rekonstruktive Unterrichtsforschung, die sich zunehmend für den Unterrichtsgegenstand interessiert (Asbrand & Martens 2018; Baltruschat 2018; Krey et al. 2021) und nach ‚Konstruktionen von Fachlichkeit‘ fragt (Martens et al. 2018),
- an eine rekonstruktive fachdidaktische Unterrichtsforschung, die Diskurspraktiken im Deutsch- und Mathematikunterricht hinsichtlich des Prozesses des fachlichen Wissensaufbaus analysiert (Becker-Mrotzek 2002; Krummheuer & Fetzer 2005; Quasthoff & Prediger 2017) sowie
- an eine standardisierte Unterrichtsforschung, die Unterrichtsqualität zunehmend im Verhältnis von ‚Oberflächen‘- und ‚Tiefenstruktur‘ zu identifizieren sucht (Decristan et al. 2020; Riegler & Wiprächtiger-Geppert 2018).
Die Arbeit des Kollegs richtet sich auf ein Verständnis von Unterrichtsqualität, das diese in konkreten Merkmalen der Unterrichtsinteraktion empirisch zu bestimmen sucht und dabei insbesondere die fachliche Qualität in den Blick nimmt. Das bedeutet, dass ein Konzept von ‚Unterrichtsqualität‘ zu entwickeln ist, das über die Erstellung von Merkmalskatalogen ‚guten Unterrichts‘ (z.B. Helmke 2004; Meyer 2004; Reusser et al. 2010) und auch über die Erfassung in Form von messbaren Kompetenzzuwächsen bei Schüler:innen hinausgeht. Es kann z. B. darum gehen, das Prozessieren fachdidaktisch spezifizierter ‚Verstehenselemente‘ (Drollinger-Vetter 2011) und ‚Erwerbsgelegenheiten‘ (Quasthoff & Prediger 2017) im alltäglichen Unterrichtsvollzug und im Zusammenhang mit anderen Merkmalen der Unterrichtsinteraktion zu identifizieren und zu untersuchen. Auf diese Aufgabe richten sich sowohl qualitativ-explorative Fallstudien als auch Versuche zur Operationalisierung von fachlichen Qualitätskriterien in Rating-Manualen im Rahmen einer standardisierten Videostudie. Zusammenfassend gesprochen geht es dem Graduiertenkolleg darum, die Qualität von Unterricht relational zwischen sozialer Ordnung und fachlicher Angemessenheit sowie zwischen Teilnehmerorientierung und Beobachtereinschätzung zu bestimmen.
Theoretische Perspektive
Grundlagentheoretisch und methodologisch kann die Arbeit des Graduiertenkollegs an den internationalen ‚practice turn‘ (Schatzki et al. 2001; Schäfer 2016) anschließen, der zunehmend und immer differenzierter auch in seiner Bedeutung für die Erziehungswissenschaft diskutiert wird (Alkemeyer et al. 2015; Budde et al. 2018; Kramer & Pallesen 2019). Praxistheorien entwerfen soziale Praktiken als eigenständigen Untersuchungsgegenstand und machen auf die Eigenlogik, Eigendynamik und Stabilität sozialer Praktiken aufmerksam. Praxistheorien sind jenseits von Struktur- oder Handlungstheorie angesiedelt und verstehen menschliche Akteure eher als Teilnehmer:innen denn als Urheber:innen von Praktiken. Insbesondere in der qualitativen Unterrichtsforschung wird inzwischen in breiter und vielfältiger Weise auf Praxistheorien zurückgegriffen, um schulischen Unterricht als Zusammenhang aufeinander bezogener Praktiken zu untersuchen (Breidenstein 2021). Aber auch in standardisierter Professionalisierungsforschung werden ‚Kernpraktiken‘ des Lehrer:innenhandelns untersucht (Grossman 2018; Fraefel 2019).
Praxistheorien fragen nach der sozialen Vollzugswirklichkeit des Lernens (Schmidt 2018). Perspektiven auf Lernen, die dieses etwa als ‚situated learning‘ (Lave & Wenger 1991) verstehen oder als ‚Lernkulturen‘ (Kolbe et al. 2008; Reusser 2006) fokussieren, bilden sicher eine Herausforderung für ein tradiertes didaktisches Denken, welches Lernen von der Vermittlungsabsicht aus entwirft. Sie enthalten aber ein großes heuristisches Potential, insofern sie es ermöglichen, die Sozialität und auch die Materialität fachlichen Lernens im Vollzug schulischen Unterrichts in den Blick zu bekommen. Fachliches Lernen kann dann unter der Perspektive der Einsozialisation in spezifische ‚epistemische Kulturen‘ (Knorr-Cetina 2002) verstanden werden.
Dies scheint gerade für die Beobachtung des Grundschulunterrichts besonders relevant. In der interaktionsanalytischen Tradition mathematikdidaktischer Forschung ist diese Perspektive bereits angelegt (Bauersfeld et al. 1983; Krummheuer & Fetzer 2005; Voigt 1994). Auch in der Deutschdidaktik werden ‚literale Praktiken‘ (Feilke 2016) als institutionell und kontextuell gebundene Formen des schriftlichen Sprachgebrauchs für den Aufbau literaler Kompetenz zunehmend in den Blick genommen und es wird nach der Rolle ‚diskursiver Praktiken‘ für fachliches Lernen gefragt (Heller & Morek 2015). Das Kolleg kann hier anknüpfen und die Theoriebildung systematisch vergleichend und unter Einbeziehung neuer praxistheoretischer Ansätze weiterführen. Anschlussfähig erscheinen auch Überlegungen französischer Mathematikdidaktiker zur ‚joint action theory of didactics‘ (Brousseau 1997; Sensevy 2012), die die Spannung zwischen didaktischen Routinen und fachlicher Herausforderung in den Mittelpunkt stellen und die sich zunehmend auch mit vergleichender (Fach-)Didaktik beschäftigen (Ligozat et al. 2015).
Literatur
Alkemeyer, T., Kalthoff, H., & Rieger-Ladich, M. (Hrsg.) (2015). Bildungspraxis. Körper – Räume – Objekte. Weilerswist: Velbrück.
Asbrand, B., & Martens, M. (2018). Dokumentarische Unterrichtsforschung. Wiesbaden: Springer VS.
Baltruschat, A. (2018). Didaktische Unterrichtsforschung. Wiesbaden: Springer VS.
Bauersfeld, H., Bussmann, H., Krummheuer, G., Lorenz. J. H., & Voigt, J. (Hrsg.) (1983). Lernen und Lehren von Mathematik. Analysen zum Unterrichtshandeln (Bd. 6). Köln: Aulis.
Becker-Mrotzek, M. (2002). Funktional-pragmatische Unterrichtsanalyse. In C. Kammler & W. Knapp (Hrsg.), Empirische Unterrichtsforschung und Deutschdidkatik (S. 58–78). Baltmannsweiler: Schneider.
Breidenstein, G. (2021, i.E.): Interferierende Praktiken. Zum heuristischen Potential praxeologischer Unterrichtsforschung. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, 24.
Brousseau, G. (1997). Theory of Didactical Situations in Mathematics. Dordrecht: Kluwer.
Budde, J., Bittner, M., Bossen, A., & Rißler, G. (Hrsg.) (2018). Konturen praxistheoretischer Erziehungswissenschaft. Weinheim: Beltz Juventa.
Decristan, J., Hess, M., Holzberger, D., & Praetorius, A.-K. (2020). Oberflächen- und Tiefenmerkmale – eine Reflexion zweier prominenter Merkmale der Unterrichtsforschung. Zeitschrift für Pädagogik, 66,102–116.
Drollinger-Vetter, B. (2011). Verstehenselemente und strukturelle Klarheit. Fachdidaktische Qualität der Anleitung von mathematischen Verstehensprozessen im Unterricht. Münster: Waxmann.
Feilke, H. (2016). Literale Praktiken und literale Kompetenz. In A. Deppermann, H. Feilke & A. Linke (Hrsg.), Sprachliche und kommunikative Praktiken (S. 253–277). Berlin: de Gruyter.
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Knorr-Cetina, K. (2002). Wissenskulturen – Ein Vergleich naturwissenschaftlicher Wissensformen. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
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Schatzki, T. Knorr-Cetina, K., & Savigny E. von (2001). The Practice Turn in Contemporary Theory. London: Routledge.
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Voigt, J. (1994). Entwicklung mathematischer Themen und Normen im Unterricht. In H. Maier & J. Voigt (Hrsg.), Verstehen und Verständigung (S. 77–111). Köln: Aulis.