Videostudie
Zentrale Aspekte von Unterrichtsqualität, wie z. B. die kognitive Aktivierung, die konstruktive Lernunterstützung und gelingende Umsetzungen von formativem Assessment spiegeln sich in Interaktionsprozessen wider und werden darin sichtbar (z.B. Klieme, 2019; Meseth & Proske, 2011). Das zunehmende Interesse der standardisierten Unterrichtsforschung an Interaktionsprozessen und deren Qualität drückt sich u. a. in einer wachsenden Anzahl von Konzeptionalisierungen und Erhebungsinstrumenten aus, mit denen Komponenten der Interaktion erfasst werden (z. B. Denn et al. 2016; Hamre et al. 2013; Molinari et al. 2012; Pfister et al. 2015; Ranger 2017; Van de Pol et al. 2010). Die Videostudie ermöglicht es, nicht nur eher generische Merkmale von Unterrichtsqualität zu erfassen (Klassenführung, soziale Interaktionsqualität und kognitive Aktivierung), sondern auch die fachdidaktische Qualität und fachliche Aspekte der Unterrichtsinteraktion systematisierend und vergleichend zu untersuchen, indem Lehrpersonen gebeten werden, sowohl im Deutsch- als auch im Mathematikunterricht anspruchsvolle, kognitiv aktivierende Aufgaben in den Mittelpunkt des Unterrichts zu stellen.
Geplant ist die Erhebung von Deutsch- und Mathematikunterricht (2 mal 2 Stunden) in ca. 20-25 Grundschulklassen des 3. Jahrgangs, wobei die Deutsch- und Mathematikstunden entsprechend dem Klassenlehrerprinzip in der Grundschule jeweils von derselben Lehrkraft unterrichtet werden sollten.
Der zu unterrichtende Inhalt wird in beiden Fächern jeweils vorgegeben: Es soll im Deutschunterricht um Rechtschreibstrategien und im Mathematikunterricht um Lösungswege und Entdeckungen zu arithmetischen Mustern und Strukturen gehen. Für den Deutschunterricht im Plenum haben sogenannte Rechtschreibgespräche (u.a. Geist 2018; Leßmann 2014; Schröder 2014) – bei entsprechendem Verhalten der Lehrperson – ein erhebliches kognitives Aktivierungspotenzial und können die Kinder anregen, ihr Wissen über Strategien zur Schreibung von Wörtern zu explizieren, anzuwenden und weiterzuentwickeln (Hanisch 2018). Für die Schüler:innenarbeitsphasen können Aufgaben zur Fehlerkorrektur, zur Selbsterklärung und zur Begründung (Fay 2012) das explizite Problemlösewissen herausfordern und in der mündlichen Aushandlung bzw. schriftlich materialisiert sichtbar machen. Sie besitzen daher für die Beobachtung fachlichen Lernens ein hohes Potenzial.
Im Mathematikunterricht ermöglichen mathematisch ergiebige, ‚natürlich differenzierende Aufgaben‘ die Verbindung von Eigenkonstruktion und Ko-Konstruktion (Rathgeb-Schnierer & Rechtsteiner 2018). Sie fordern Schüler:innen zur eigenständigen Auseinandersetzung mit mathematischen Sachverhalten heraus, ermöglichen Lösungswege auf unterschiedlichen Niveaus und den Austausch über Vorgehensweisen und Entdeckungen (z. B. Ruwisch 2003; Walther 2004). Diese Art der Aufgaben bietet vielfältige Möglichkeiten zur kognitiven Aktivierung der Schüler:innen in Arbeits- und Austauschphasen. Inhaltlich beziehen sich die Aufgaben auf das Erkunden arithmetischer Muster und Strukturen, da in diesem Bereich bereits zahlreiche einschlägige Aufgabenformate in der Unterrichtspraxis etabliert sind (z. B. Zahlenhäuser, Zahlenmauern, operativ strukturierte Aufgabenserien), sodass Anknüpfungsmöglichkeiten gegeben sind.
Gezielt werden damit in beiden Fächern Themen gewählt, die zum einen eine fachlich vertiefte Auseinandersetzung erlauben bzw. nahelegen und die zum anderen eine deutliche Varianz in unterrichtlichen Vorgehensweisen und Zugängen erwarten lassen. Zudem lassen sich beide Inhalte vergleichsweise flexibel in den Stoffverteilungsplan des 3. Schuljahres ‚einbauen‘, sodass die unterrichtliche Behandlung in einem festgelegten Zeitraum im Schuljahr nicht erforderlich ist. Die Lehrpersonen werden in beiden Unterrichtseinheiten darum gebeten, außer Plenumsunterricht eine längere kooperative Schüler:innenarbeitsphase in ihrem Unterrichtsablauf vorzusehen, um die fachliche Interaktion in verschiedenen Sozialformen vergleichend untersuchen zu können. Im Zentrum des Untersuchungsinteresses steht das Verhältnis zwischen der sozial-emotionalen und der fachlichen Interaktionsqualität, die durch zu entwickelnde Rating- und Kodierverfahren unabhängig voneinander erfasst werden. In den Blick genommen werden das Unterstützungsverhalten der Lehrkräfte wie auch die Schüler:innen-Schüler:innen-Interaktionen. Die zu erfassenden Daten ermöglichen es, systematische Zusammenhänge zwischen generischen und fachlichen Aspekten der Qualität von Grundschulunterricht systematisch zu untersuchen.
Die Videoaufzeichnung des Unterrichts wird in jeder Klasse durch verschiedene Befragungen ergänzt, die sich über einen Zeitraum von vier bis sechs Wochen erstrecken, um Belastungen für die Beteiligten zu reduzieren. In diesem Zeitraum werden mittels Tests und Fragebogen Facetten professioneller Handlungskompetenz der Lehrpersonen bezogen auf beide Fächer erfasst. Dazu werden Verfahren zur Ermittlung fachdidaktischen Wissens herangezogen, die von Kooperationspartner:innen des Antragskonsortiums entwickelt wurden und in Absprache mit diesen ggf. modifiziert werden können (Knievel et al. 2015; Riegler & Wiprächtiger-Geppert 2016; Jeschke et al. 2020). Zudem werden vor der Videostudie fachbezogene Selbsteinschätzungen der Lehrkräfte, wie die eigenen Kompetenzüberzeugungen, mit einem Fragebogen erhoben. Mit Hilfe dieser Daten soll untersucht werden, inwieweit sich das unterrichtliche Handeln der Lehrkräfte und damit auch die beobachtbaren Interaktionsmuster und die realisierten Praktiken durch die erfassten Kompetenzfacetten vorhersagen lassen. Die Entdeckung von entsprechenden Zusammenhängen wird von erheblicher Relevanz für Fragen der Unterrichtsentwicklung sein und auch Implikationen für die Lehrer:innenbildung haben.
Im zeitlichen Kontext der videografierten Unterrichtsstunden werden schülerseitig fachspezifische Lernstände mit dem Deutschen Mathematiktest (DEMAT) oder dem PERLE-Mathematiktest und der Hamburger Schreibprobe (HSP) erfasst, um untersuchen zu können, wie die Lehrpersonen mit Schüler:innen unterschiedlichen Leistungsstandes interagieren. Ferner werden die Lehrpersonen gebeten, Einschätzungen zu den Schüler:innenleistungen in der Rechtschreibung und Arithmetik vorzunehmen. Direkt im Anschluss an den Unterricht ist ein leitfadengestütztes Interview mit den Lehrpersonen vorgesehen, in dem diese nach ihrem planerischen Handeln gefragt werden, sodass auch die Tiefe und Differenziertheit der unterrichtlichen Vorbereitung ermittelt werden kann. Damit soll untersucht werden, inwieweit die fachliche Qualität des Unterrichts, aber auch bestimmte generische Dimensionen der Unterrichtsqualität, wie die Klassenführung, mit dem Niveau der Unterrichtsvorbereitung in Zusammenhang stehen.
Quantitative Analysen richten ihren Blick u. a. auf die sozial-emotionale und auf die fachliche Qualität des Unterrichts und wenden hierzu niedrig-inferente Kodierverfahren und hoch-inferente Ratings an. Mithilfe von Markov-Ketten können beispielsweise Übergangswahrscheinlichkeiten berechnet und Verlaufsmuster in den Interaktionen ermittelt werden. Darüber hinaus sollen die Zusammenhänge zwischen den Qualitätsdimensionen analysiert werden, um zu prüfen, inwieweit die generischen und fachlichen Aspekte des Unterrichts unabhängig voneinander sind. Mittels der Erfassung von Unterricht im Plenum und kooperativen Settings erlaubt der Datensatz darüber hinaus die Bearbeitung von Forschungsfragen, die sich auf die Adaptivität des Unterstützungsverhaltens der Lehrpersonen richten oder auf die differenzielle Analyse des Schülerverhaltens. So kann beispielsweise geprüft werden, welche Art der Unterstützung die Lehrperson leistungsschwächeren und -stärkeren Schüler:innen gewährt und inwieweit leistungsschwächere Schüler:innen häufiger Hilfe und Unterstützung erbitten. Durch die Beobachtung der Schüler:innen in kooperativen Arbeitsphasen wird das Videomaterial um Daten zur gegenseitigen Unterstützung, zur Rollenverteilung in kooperativen Settings und zur fachlichen und sozialen Qualität des Austauschs unter den Lernenden ergänzt.
Die Videostudie wird technisch so umgesetzt, dass sowohl standardisierte als auch qualitativ-rekonstruktive Zugänge möglich sein werden. Kriteriale Festlegungen und Kodierungen werden durch rekonstruktive Analysen komplementiert und auch das aus dem Forschungsdesign abgeleitete Arrangement des Unterrichts kann selbst zum Untersuchungsgegenstand gemacht werden (Fankhauser 2013; Baltruschat 2018).
Literatur
Baltruschat, A. (2018). Didaktische Unterrichtsforschung. Wiesbaden: Springer VS.
Denn, A.-K., Heinzel, F., & Lipowsky, F. (2016). „Und Marie, jetzt traust du dich.“ – Verbindung von quantitativer und qualitativer Forschung bei der Analyse des Interaktionsverhaltens von Lehrpersonen mit Mädchen und Jungen im Mathematikunterricht. In F. Heinzel & K. Koch (Hrsg.), Individualisierung im Grundschulunterricht: Anspruch, Realisierung und Risiken. Jahrbuch Grundschulforschung, 21 (S. 188–192). Wiesbaden: Springer VS.
Fankhauser, R. (2013). Videobasierte Unterrichtsbeobachtung: die Quadratur des Zirkels? Forum qualitative Sozialforschung (FQS), 14(1), Art. 24. URL: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs1301241.
Fay, J. (2012). Prozessorientierte Rechtschreibdiagnostik – Wie kommen richtige und falsche Schreibungen zustande? Grundschulunterricht Deutsch, 3, 33–37.
Geist, B. (2018). Wie Kinder in Rechtschreibgesprächen Schreibungen erklären. In S. Riegler & S. Weinhold (Hrsg.), Rechtschreibunterricht empirisch – Lehrerforschung in der Orthographiedidaktik (S. 111–129). Berlin: Erich Schmidt.
Hamre, B. K., Pianta, R.C., Downer, J. T., DeCoster, J., Mashburn, A. J., Jones, S. M., & Brackett, M. A. (2013). Teaching through Interactions: Testing a Developmental Framework of Teacher Effectiveness in over 4,000 Classrooms. The Elementary School Journal, 113(4), 461–487.
Hanisch, A.-K. (2018). Kognitive Aktivierung im Rechtschreibunterricht. Eine Interventionsstudie in der Grundschule. Münster: Waxmann.
Jeschke, C., Lindmeier, A., & Heinze, A. (2020). Vom Wissen zum Handeln: Vermittelt die Kompetenz zur Unterrichtsreflexion zwischen mathematischem Professionswissen und der Kompetenz zum Handeln im Mathematikunterricht? Eine Mediationsanalyse. Journal für Mathematik-Didaktik. https://doi.org/10.1007/s13138-020-00171-2.
Klieme, E. (2019). Unterrichtsqualität. In M. Gläser-Zikuda, M. Harring & C. Rohlfs (Hrsg.), Handbuch Schulpädagogik (S. 393–408). Stuttgart: UTB.
Knievel, I., Lindmeier, A. M., & Heinze, A. (2015). Beyond Knowledge: Measuring Primary Teachers’ Subject-Specific Competences in and for Teaching Mathematics with Items Based on Video Vignettes. International Journal of Science and Mathematics Education, 13, 309–329. DOI 10.1007/s10763-014-9608-z.
Leßmann, B. (2014). Individuelle und gemeinsame Lernwege im Rechtschreiben. Grundschulzeitschrift, 272, 44–47.
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Pfister, M., Moser Opitz, E., & Pauli, C. (2015). Scaffolding for Mathematics Teaching in Inclusive Primary Classrooms. A Video Study. ZDM: The International Journal on Mathematics Education, 47(7), 1079–1092.
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