Forschungsfelder

Um die konstitutive Forschungsidee des Graduiertenkollegs zu visualisieren, greifen wir auf die geläufige Figur des didaktischen Dreiecks zurück. Die tradierte Fassung der Veranschaulichung des Unterrichtsgeschehens im didaktischen Dreieck fokussiert den Bezug auf die Lehrperson, auf Schüler:innen und auf den Gegenstand des Unterrichts. Demgegenüber ergänzen wir das tradierte Dreieck um ein weiteres, umfassendes Dreieck, welches die Beziehungen zwischen Konstituenten des herkömmlichen Dreiecks thematisiert und damit die praktischen und situativen Vollzüge des Unterrichts in den Blick rückt. Dabei verstehen wir schulisches Lernen als Zusammenspiel von Praktiken der Strukturierung, der Aufgabenbearbeitung und der Interaktionsorganisation. ‚Lehrer:innen‘, ‚Schüler:innen‘ und ‚Unterrichtsgegenstände‘ erscheinen in dieser Perspektive weniger als Ausgangspunkte, denn als Beteiligte eines Unterrichtsvollzuges, der die Formen dieser Beteiligung zugleich auch mit hervorbringt. Ein solcherart praxeologisch reformuliertes didaktisches Dreieck kann fachlich (bzgl. des Mathematik- und Deutschunterrichts) differenziert werden, um sowohl die (mögliche) Spezifik situierten fachlichen Lernens als auch den verallgemeinernden Vergleich zu entwerfen.

Grafik Doppeltes Dreieck

Das Schaubild visualisiert die grundlegenden Untersuchungsgegenstände des Kollegs als Forschungsfelder.

  1. Die Praktiken der Interaktionsorganisation sind gekennzeichnet von den aufeinander verweisenden und aufeinander verwiesenen Interaktionsrollen der ‚Lehrer:innen‘ und ‚Schüler:innen‘. In der Differenz dieser Interaktionsrollen konstituiert sich ‚Unterricht‘ als Vermittlung und Aneignung. Der Vollzug der Unterrichtsinteraktion ist zum einen von allgemeinen Merkmalen der Interaktionsordnung unter Anwesenden gekennzeichnet (Vanderstraeten 2001) und auf Stabilisierung, Aktivierung oder Erhalt der Interaktion gerichtet. Die interaktive Herstellung und Regulierung der Unterrichtsordnung bleibt allerdings konstitutiv auf den Gegenstand und die Formen fachlichen Lernens bezogen, insofern die organisationale Zwecksetzung der Interaktion darin besteht, fachliches Lernen zu ermöglichen. Dazu muss die Unterrichtsinteraktion Partizipationsstrukturen einrichten, die die Aktivierung der Beteiligten und die Darstellung von ‚Lernen‘ ermöglichen (Breidenstein 2010; Herzmann 2018). Das Forschungsfeld fokussiert auf den Zusammenhang zwischen verschiedenen Interaktions- und Partizipationsformaten und der Erzeugung und Vermittlung von fachlichem Wissen. Zugleich zielt es darauf ab, Indikatoren für die Qualität und Intensität von Unterricht in Merkmalen der Unterrichtsinteraktion zu identifizieren: Was sind Kriterien für ‚gelungene‘ Lehrer:innen-Schüler:innen-Interaktionen im Hinblick auf fachliches Lernen?
  2. Die Praktiken der Strukturierung, mittels derer Lehrpersonen fachliche Gegenstände oder Probleme für den Unterricht auswählen, zuschneiden und situativ zur Geltung bringen, konturieren den Unterrichtsgegenstand und bestimmen die Gestalt, die das fachliche Problem in der und für die Unterrichtsinteraktion annimmt. Solcherart strukturierende und figurierende Praktiken werden in der Grafik zwischen Lehrperson und Unterrichtsgegenstand angesiedelt, sie können aber natürlich auch Schüler:innen einbeziehen. Sie sind oft in die im Unterricht verwendeten Lehrmittel eingelassen und solcherart an Objekte ‚delegiert‘ (Lange 2017). Auf den im Dreieck gegenüberliegenden Pol der Lernenden bleiben die Praktiken der Strukturierung bezogen, insofern sie den Unterrichtsgegenstand adressatenbezogen entwerfen und oft mit impliziten oder expliziten Praktiken der Diagnostik und Differenzierung Das Forschungsfeld fokussiert darauf, welche Gestalt die ‚Sache‘ des Unterrichts in den Praktiken seiner Strukturierung annimmt: Welche ‚Zurichtung‘ erfährt der Gegenstand durch seine Didaktisierung und ‚Behandlung‘ im Unterricht (Gruschka 2009)? Vor dem Hintergrund der prinzipiellen Differenz zwischen Unterrichtsplanung und Unterrichtsvollzug gilt es zudem zu untersuchen, wie Unterrichtsplanungen und laufende Unterrichtsaktivitäten miteinander verbunden werden und wie die Beteiligten kontingente Entwicklungen und situative Anforderungen bewältigen. Wie wird die ‚Adaptivität‘ des Unterrichts im interaktiven Vollzug herzustellen versucht?
  3. Das dritte Feld bezieht sich auf die Praktiken der Aufgabenbearbeitung, insofern den Schüler:innen der Unterrichtsgegenstand in aller Regel in Form von Aufgaben gegenübertritt. Dabei kann es sich darum handeln, im Kontext des Unterrichtsgesprächs Lehrer:innenfragen zu beantworten, oder es geht um die möglichst ‚selbständige‘ Bearbeitung offenerer und geschlossenerer Arbeitsaufträge. Praktiken der Aufgabenbearbeitung sind – auch schon im Grundschulalter – von Routinisierung und von der Orientierung an Pragmatik und Effizienz gekennzeichnet (Breidenstein & Rademacher 2017; Lipowsky & Lotz 2015). Zudem dürfte für das Schüler:innenhandeln situativ fast immer die Orientierung an Peers und an den Relevanzen der Peerkultur eine Rolle spielen (De Boer & Deckert-Peaceman 2009). Auf das Lehrer:innenhandeln bleiben die Praktiken der Aufgabenbearbeitung bezogen, insoweit die Lehrperson die Instanz der Hilfestellung, der Kontrolle und der Bewertung bleibt – auch im weitgehend individualisierten und dezentrierten Unterricht. Zentrale Fragestellungen beziehen sich auf das Verhältnis von Herausforderung und Routine im Umgang mit Lernmaterialien und Aufgaben: Welche Formen der Routinisierung und Pragmatik der Bearbeitung legen die Aufgaben nahe? Wie lassen sich Routinen der Aufgabenbearbeitung irritieren und herausfordern? Wie gestaltet sich die Unterstützung der Aufgabenbearbeitung durch die Lehrkraft?

Die Forschungsfelder bilden eine erste Heuristik ab. Sie ermöglichen zwar eine erste Sortierung von Forschungsperspektiven und -gegenständen, sie weisen aber auch vielfältige Berührungspunkte und Überschneidungen auf. Die Frage- und Problemstellungen aller drei Forschungsfelder bleiben eng aufeinander bezogen, da sich die Formen und Bedingungen situierten Lernens letztlich nur als Zusammenspiel von Praktiken der Strukturierung, Aufgabenbearbeitung und Interaktionsorganisation erfassen lassen. Das praxeologisch reformulierte didaktische Dreieck erlaubt auch eine Anknüpfung an die drei Dimensionen des „teaching through interaction“-Modells von Hamre et al. (2013) bzw. an die drei „generischen Grunddimensionen der Unterrichtsqualität“ (Klieme 2019; Praetorius et al. 2020). Diese in der standardisierten Unterrichtsforschung sich herauskristallisierenden ‚Basisdimensionen‘ sind allerdings stärker von Qualitäten des Lehrer:innenhandelns aus bestimmt als vom Zusammenspiel unterrichtlicher Praktiken. Insbesondere die Basisdimension der ‚kognitiven Aktivierung‘, die die inhaltliche Qualität des Unterrichts beschreibt, müsste fachlich ausdifferenziert werden (Lindmeier & Heinze 2020). Doch auch für ‚effektive Klassenführung‘ und ‚konstruktive Unterstützung‘ ist zu fragen, ob und ggf. wie sie sich fachdidaktisch spezifizieren lassen.

Breidenstein, G., & Rademacher, S. (2017). Individualisierung und Kontrolle. Empirische Analysen zum geöffneten Unterricht in der Grundschule. Wiesbaden: Springer VS.

Breidenstein, G. (2010). Überlegungen zu einer Theorie des Unterrichts. Zeitschrift für Pädagogik, 56(6), 869–887.

De Boer, H., & Deckert-Peaceman, H. (Hrsg.) (2009). Kinder in der Schule. Zwischen Gleichaltrigenkultur und schulischer Ordnung. Wiesbaden: Springer VS.

Gruschka, A. (2009). Erkenntnis in und durch Unterricht. Empirische Studien zur Bedeutung der Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie für die Didaktik. Wetzlar: Büchse der Pandora.

Hamre, B. K., Pianta, R.C., Downer, J. T., DeCoster, J., Mashburn, A. J., Jones, S. M., & Brackett, M. A. (2013). Teaching through Interactions: Testing a Developmental Framework of Teacher Effectiveness in over 4,000 Classrooms. The Elementary School Journal, 113(4), 461–487.

Herzmann, P. (2018). Lernen sichtbar machen. In M. Proske & K. Rabenstein (Hrsg.), Kompendium Qualitative Unterrichtsforschung. Unterricht beobachten – beschreiben – rekonstruieren (S. 171–188). Bad Heilbrunn: Klinkhardt.

Klieme, E. (2019). Unterrichtsqualität. In M. Gläser-Zikuda, M. Harring & C. Rohlfs (Hrsg.), Handbuch Schulpädagogik (S. 393–408). Stuttgart: UTB.

Lange, J. (2017). Schulische Materialität. Empirische Studien zur Bildungswirtschaft (Qualitative Soziologie, Bd. 23). Berlin: De Gruyter Oldenburg.

Lindmeier, A., & Heinze, A. (2020). Die fachdidaktische Perspektive in der Unterrichtsqualitätsforschung: (bisher) ignoriert, implizit enthalten oder nicht relevant? Zeitschrift für Pädagogik, 66, 255–267.

Lipowsky, F., & Lotz, M. (2015). Ist Individualisierung der Königsweg zum Lernen? Eine Auseinandersetzung mit Theorien, Konzepten und empirischen Befunden. In G. Mehlhorn, F. Schulz & K. Schöppe (Hrsg.), Begabungen entwickeln & Kreativität fördern (S. 155–219). München: kopaed.

Praetorius, A.-K., Klieme, E., Kleickmann, T., Brunner, E., Lindmeier, A., Taut, S., & Charalambous, C. (2020). Towards Developing a Theory of Generic Teaching Quality. Zeitschrift für Pädagogik, 66, 15–36.

Vanderstraeten, R. (2001). The School Class as an Interaction Order. British Journal of Sociology of Education, 22(2), 267–277.